Frage      Die Landnahme Kanaans
Voller Erwartung standen die Israeliten nach Ihrer Reise aus Ägypten an der Grenze Kanaans, dem versprochenen heiligen Land. Natürlich ist das Land bereits besiedelt und die Einwohner machen keine Anstalten, es aufzugeben. Josua, der zu Moses Nachfolger bestimmt worden war, führte - gemäss Bibel - sein Volk in einem beispiellosen Blitzkrieg durch das Land. Er eroberte Stadt um Stadt, Festung um Festung und besiegte mächtige Könige und kampferprobte Berufsarmeen.

Zusammen mit seinem Herrn vernichtete das auserwählte Volk das ganze Land von der Wüste im Süden bis zu den Gipfeln des Hermongebirges. Eroberung allein war jedoch nicht genug. Gott forderte die totale Vernichtung der Einwohner und vor allem der anderen Götter. Die Israeliten sollten alle auslöschen, damit sie nicht in Versuchung geraten könnten, den Göttern der Eroberten zu huldigen (5. Mose/Dtn. 20,16-18): "Du sollst nichts leben lassen, was Odem hat."

Was sagen Geschichtsforschung und Archäologie zu dieser Eroberung? Dasselbe wie immer: es gibt keine Spuren aus der Vergangenheit.

Weder außerbiblisch überlieferte Schriften, noch Fundstücke weisen auf eine derartige Besitznahme hin. Zwar wurden alte Städte wie Jericho, Gibeon und Hazor ausgegraben, aber man fand sowohl für die angenommene Epoche als auch für spätere Perioden keinerlei Hinweise auf eine gleichzeitige Einnahme durch die Israeliten.

Man muss auch bedenken, dass die damaligen Städte keine stark befestigten Orte waren, wie man sie aus späteren Zeiten kennt. Es gab keine Stadtmauern, die hätten einstürzen können.

Auch später bestanden Festungswälle in dieser Region hauptsächlich aus aufgestapelten Lehmziegeln. Die Bevölkerung des ganzen Gebietes jener Zeit wird heute von Fachleuten auf etwa hunderttausend Menschen geschätzt.

Für Städte wie Bethel, Lachisch, Hazor und andere, die Zerstörungen aufweisen, liegen Indizien aus außerbiblischen Quellen vor, welche die Israeliten als Eroberer klar ausschließen. Diese Zerstörungen wurden auch nicht während eines groß angelegten Eroberungsfeldzugs angerichtet, sondern geschahen über Hunderte von Jahren. Kanaans frühe Zivilisation wurde nicht vernichtet, sondern ging zur Spätbronzezeit in einem langsamen Prozess unter und vermischte sich mit Nachbarn und Eroberern.

Wieder fällt auf, dass die in der Landnahme erwähnten Städte mehr oder weniger das Gebiet des Königreichs Juda im 7. Jahrhundert v. Chr. umfassen. Das ist jene Zeit, die seriöse Wissenschaftler als frühestmöglichen Zeitpunkt einer Niederschrift des Alten Testaments annehmen. Einige Orte waren sogar nur zu dieser Zeit bewohnt.

Hier spricht alles dafür, dass die Geschichte im 7. Jahrhundert v. Chr. erdichtet wurde und dass es hauptsächlich darum ging, den Besitzanspruch auf diese Städte mit beeindruckenden Legenden zu legitimieren. Die Stämme sollten auf den Weg zu einer gemeinsamen Nation eingeschworen werden. Man vermengte die Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft mit der Sehnsucht nach einer mächtigen Vergangenheit. Gleichzeitig sollten ethnische Schranken errichtet werden, um die eigenen Stammesmitglieder vom Einfluss der reichen und verlockenden Nachbarn abzugrenzen.

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©Johannes Maria Lehner
 
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